Der Start von Temu durch die chinesische PDD Holding im Jahr 2022 markiert einen bedeutenden Meilenstein in der Digital Commerce Branche und signalisiert möglicherweise den Beginn der zweiten Generation von Digital Commerce Marktplätzen. Bis Mai 2023 feierte die Plattform über 100 Millionen aktive Nutzer:innen in den Vereinigten Staaten. In Deutschland kommt Temu im April 2024 laut eigenen Angaben auf 33 Millionen Nutzer:innen und lauf Reuters EU-weit auf 75 Millionen Nutzer:innen und (siehe hier und hier).
Zwar nimmt die Kritik hierzulande an Temus Versandstrategien, die die gesamte Logistik-Kette belasten, an der unzureichenden Nachhaltigkeit durch die geringe Produktqualität und den hohen CO2-Fußabdruck sowie Sicherheitsmängeln und dem Verkauf von Plagiaten zu. Dennoch wächst Temu auch in Deutschland rasant: Bereits 26 Prozent der Deutschen haben in der zweiten Hälfte 2023 über Temu eingekauft. Schätzungen zufolge werden jeden Tag bereits 200.000 Temu-Pakete nach Deutschland geliefert. Innerhalb des Zeitraums von September 2022 bis Juni 2023 schnellte Temus Bruttowarenvolumen (übersetzt: Gross Merchandise Value, GMV) laut Analysten von 3 Millionen auf 1 Milliarde US-Dollar hoch. Da PDD Holding jedoch das GMV nicht offiziell ausweist, kann das außerordentliche GMV nicht zweifelsfrei bestätigt werden.
Dennoch ist dieses Wachstum im E-Commerce-Segment außergewöhnlich. Temu versucht sich in westlichen Märkten damit zunehmend als Wettbewerber von Amazon zu positionieren. Doch was macht Temu so einzigartig? Und hat die Plattform wirklich das Potenzial, Digital Commerce Unternehmen der ersten Stunde wie Amazon gefährlich zu werden?
Im Mittelpunkt von Temus Ansatz steht das Consumer-to-Manufacturer (C2M)-Modell – ein Konzept, welchem ursprünglich Shein den Weg bereiteten und welches nun auch bei Temu Anwendung findet. Das C2M-Konzept bedeutet, dass die Produktion durch konkrete Kundenwünsche und Nachfragen ausgelöst wird, was durch Daten-Innovationen an verschiedenen Stellen der Absatzwertschöpfungskette ermöglicht wird:
Die Vorlieben der Verbraucher werden äußerst präzise und schnell durch den Einsatz verschiedener Methoden und Datenquellen erfasst. Trends auf Social-Media-Plattformen wie TikTok werden mittels Social-Listening-Tools erkannt und ausgewertet, während eigene Kunden- und Plattformdaten zusätzliche Einblicke in die Wünsche der Konsument bieten. Diese gesammelten Daten werden so interpretiert, sodass sowohl Hersteller als auch Händler in der Lage sind, ein Produktsortiment zu entwickeln und anzubieten, das genau auf die Nachfrage und Vorlieben der Verbraucher abgestimmt ist. Die Produktion der Ware findet manchmal sogar erst statt, wenn genügend Kunden ein bestimmtes Produkt in den Warenkorb gelegt haben. Um diese Art des „Reverse Manufacturing“ erfolgreich zu gestalten, benötigen die Unternehmen ein hohes Maß an Data-Management und Data-Analytics-Fähigkeiten. Der chinesische Online Mode-Händler Shein hat diesen Ansatz im Mode-Handel perfektioniert.
Das „Reverse Manufacturing“ ist die zentrale Innovation des C2M-Modells. Es ermöglicht Temu einen sehr dynamischen und effizienten Marktplatz, bei dem die Produktion durch Verbraucherdaten optimiert wird. Dies hilft sowohl den Händlern als auch den Herstellern, da sie auf diese Art die Produktion überschüssiger Ware vermeiden und weniger auf den Abverkauf mit Rabatten angewiesen sind. Marktbeobachter gehen davon aus, dass Temu dieses Modell nutzt und die Hersteller nachfrageorientiert und damit extrem agil produzieren lässt (siehe hier und hier). Allerdings ist – Stand heute - noch unklar, in welchem Umfang und auf welche Weise Temu seine Data-Analytics Fähigkeiten genau nutzt, um z. B. die Produktion der Ware von Herstellern datengesteuert zu steuern. Ein Teil der Produkte auf Temu scheint auch aus Restbeständen von Herstellern und Händlern zu bestehen.
Damit werden - nach dem Prinzip „Cut out the Middleman“ – in Europa (inkl. Deutschland) die Mittelsmänner in Form von Groß- und Einzelhändlern ausgeschaltet. Die direkte Anbindung der Hersteller auf den Markplatz führt zu niedrigeren Preisen, denn die Marge der Händler kann gespart werden.
Ein Beispiel: Der „Memphis One“-Schuh, der bei Deichmann für 30 Euro online zu haben ist, lässt sich nun bei Temu für 10 Euro oder weniger kaufen. Bedeutet:
1. Aus der Supply-Chain werden zwei Spieler herausgedrängt.
2. Temu schafft seinen auf dem Marktplatz angebundenen Herstellern einen eigenen Kundenzugang: mittels eigener App und hohen Marketingausgaben (was neben hohen Marketingausgaben bei Meta und anderen Socia-Media Plattformen auch bedeutet, dass manche Produkte nochmal extra günstig angeboten werden, um damit „Kunden einzukaufen“).
3. Kundenseitig besteht die Bereitschaft, für diese extrem niedrigeren Preise längere Lieferzeiten in Kauf zu nehmen. Diese entstehen dadurch, dass die Ware nach der Bestellung aus China via Schiff und Flugzeug nach Europa kommt, und nicht wie bei anderen Anbietern üblich, bereits in Lagern in Europa vorgehalten wird.
Dabei ist wichtig zu wissen: Auf Temu verkaufen nicht nur Hersteller ihre Produkte, sondern auch chinesische Händler sind auf dem Marktplatz vertreten. Der genaue Anteil der Teilnehmer auf dem Temu-Marktplatz, die als Händler oder Hersteller agieren, ist bisher nicht öffentlich bekannt. Nun öffnet Temu den Marktplatz auch für europäische Händler (siehe hier). Zwar werden die Preise der europäischen Händler tendenziell höher sein, jedoch können sie kürzere Lieferzeiten bieten. Damit tritt Temu in Europa in direkte Konkurrenz zu Amazon.
Temu setzt auf aggressives Wachstum und Marktanteilserweiterung, ähnlich wie einst Amazon in den Anfängen des E-Commerce. Bis heute leitet die Website-Domain www.relentless.com auf Amazon weiter und verdeutlicht, wie unerbittlich Amazon um Marktanteile gekämpft hat. Im dritten Quartal 2023 hat die Temu-Mutter drei Milliarden US-Dollar an Marketingausgaben ausgewiesen – das war fast ein Drittel des Umsatzes von 9,4 Milliarden Dollar. Temu scheut – wie damals Amazon – nicht davor zurück, Marktanteile zu gewinnen, in dem bewusst Verluste bei einzelnen Bestellungen in Kauf genommen werden. Wired zufolge verlor Temu 2023 rund 30 Dollar pro Auftrag in den USA – ein gezielter Schritt, um den US-Markt mit besonders niedrigen Preisen zu erobern.
Die Kernfrage bei Temus ambitionierter Marktstrategie ist, ob sie die kurzfristige Kundenakquise in langanhaltende, ökonomisch solide Kundenbeziehungen überführen können. Wird die Kundschaft dem Unternehmen auch dann noch die Stange halten, wenn die Preise eines Tages anziehen sollten? Die Aussichten hierfür stehen gut. Dank der oben beschriebenen Komponente „Cut-out-the-Middleman“ des Consumer-to-Manufacturer (C2M)-Ansatzes ist Temu in der Lage, dauerhaft niedrigere Preise als der Wettbewerb anzubieten.
Aktuell stehen in Deutschland sowohl die Online-Pure-Player wie Amazon, Versandhändler wie Otto als auch die Fast Fashion Omnichannel-Player wie KiK vor der Herausforderung, wie sie ihre E-Commerce-Strategie anpassen. Die Frage ist: Wer von ihnen muss sich angesichts der Konkurrenz aus China Sorgen machen?
Unsere These: Jedes Unternehmen und jeder Zwischenhändler, der austauschbare Produkte ohne großen Brand-Wert verkauft. Händler, die Markenprodukte wie z. B. im Werkzeug-Bereich Bosch, Makita oder Einhell verkaufen, müssen sich weniger Sorgen machen, da die Marke als Differenzierungsmerkmal dient. Aber Händler wie Lidl oder Kaufland haben jetzt natürlich ein Problem, wenn sie im Non-Food Bereich in China produzierte No-Brand-Schraubenschlüssel anbieten. Da gibt es für die Verbraucher:innen eigentlich keinen Grund mehr, online bei Lidl zu kaufen, da der Preis als differenzierender Faktor wegfällt. Temu kann durch die Anbindung der China-Factories auf der Plattform deutlich günstiger anbieten.
Im Moment erlaubt Temu Kunden jedoch noch nicht, gezielt nach Produktqualität zu filtern. Viele No-Brand-Produkte aus China, die auf Temu verkauft werden, weisen unterschiedliche Qualitätsstandards auf und Konsumenten sind mit der Auswahl überfordert. Zudem trifft die Produktqualität auf Temu noch nicht die Ansprüche der Kunden in westlichen Märkten. Solange Temu kein Filtern nach Produktqualität anbietet und die Anzahl der Produkte mit hoher Qualität steigert, können sich No-Brand-Händler wie Lidl dadurch differenzieren, dass sie Qualitätskontrollen vornehmen und Konsumenten sich darauf verlassen können, dass die Produktsicherheit durch z.B. das CE Siegel sichergestellt ist.
Auf diesen Vorteil sollten sich die etablierten Händler aber nicht zu lange ausruhen: Die Hersteller in China sind in der Lage hochwertige Konsumentenprodukte zu produzieren (siehe die in China hergestellten No-Brand Produkte vom Outdoorhändler Decathlon) und Temu besitzt das technologische Know-How, um den Kunden der Plattform die richtigen Produkte in der richtigen Qualität anzubieten.
Wir haben eine Testbestellung bei Temu gemacht. Das haben wir dabei erlebt:
Aus ethischer Sicht: nein. Aus praktischen Gründen: ja. Z.B. bietet Temu sehr günstige Ersatzteile für Werkzeuge und Haushaltsgeräte an. So kostet bei Temu ein Luftfilter für einen Dyson Staubsauger im 3er Pack nur 12,79 €. Das Originalteil von Dyson kostet im Händlershop 39,00 €.
Vergleichsbild: Temu Ersatzteile vs. Originalteil von Dyson:
Der rasante Aufstieg von Temu ist wahrscheinlich mehr als nur eine kurzfristige Erfolgsgeschichte. Er ist vielmehr ein Vorbote der Transformation innerhalb des E-Commerce-Sektors. Das Consumer-to-Manufacturer (C2M)-Modell fordert nicht nur etablierte Marktplatzparadigmen heraus, sondern setzt auch neue Maßstäbe für Supply-Chain-Management sowie Produktion und Preisgestaltung nach Verbraucherinformationen/-wünschen. Diese Entwicklung ebnet den Weg für die zweite Generation von E-Commerce-Marktplätzen und Geschäfstmodellen, die durch die direkte Anbindung von Herstellern günstige Preise garantieren und durch ihre Data-Management und Data-Analytics Fähigkeiten Ware produzieren und verkaufen, die optimal auf die Bedürfnisse und Präferenzen der Verbraucher:innen abgestimmt sind. So wächst auch Temu kontinuierlich weiter.
Wenn du wissen möchtest, was der Aufstieg von Temu für dein Geschäftsmodell bedeutet und welche Anpassungen du für deine weitere Wettbewerbsfähigkeit vornehmen könntest, dann kontaktiere uns!